Dshalil Mamedkulisade

(1866 - 1932)

Der Briefkasten

Übersetzung: D. Dshafarow

Man schrieb damals den 12. November. Es wurde Winter, aber kein Schnee fiel. Der Arzt hatte kürzlich die kranke Gattin Weli Chans untersucht und eine Besserung ihres Gesundheitszustandes festgestellt. Er meinte, dass sie schon in einer Woche mit der Eisenbahn reisen könne. Der Chan, der in Irawän dringende Angelegenheiten zu erledigen hatte, musste sich beeilen. Außerdem befürchtete er, der Kälteeintritt könnte die Reise der Kranken beeinträchtigen.

Der Chan griff zur Feder und schrieb seinem in Irawän lebenden Freund Dshafar Agä einen kurzen Brief folgenden Inhalts:

„Mein lieber Freund! In einer Woche beabsichtige ich mit meinen Angehörigen nach Irawän zu fahren. lch komme mit meiner kranken Frau, darum bitte ich Dich sehr, meine Wohnung aufzusuchen und anzuordnen, dass man die Zimmer lüftet, die Teppiche ausbreitet und alle Öfen heizt. Antwort bitte telegraphisch! Alle Deine Aufträge habe ich schon ausgeführt. Auf baldiges Wiedersehen! Dein Freund und Gönner Weli Chan. Den 12. November".

Der Chan faltete den Briefbogen zweimal, legte ihn in den Briefumschlag, schrieb die Adresse, klebte eine Briefmarke auf und wollte schon den Diener rufen, damit er den Brief zur Post bringe. Plötzlich fiel ihm ein, dass er den Mann anderswohin geschickt hatte. In diesem Augenblick klopfte jemand an das Tor. Der Chan ging in den Hof und sah, dass es sein Bauer Nowrusali aus dem Dorfe Itgapän' war.

Nowrusali besuchte den Chan ziemlich oft. Er ließ keine Gelegenheit ungenützt, irgendwelche Lebensmittel mitzubringen: Mehl, hausbackene Nudeln, Honig, Butter. Auch diesmal war er nicht mit leeren Händen gekommen.

Als er den Chan sah, stellte er seinen Wanderstab an die Wand und begann, den anderen Torflügel zu öffnen. Dann trieb er, mehrmals „Tschosch-Tschosch" rufend, einen schwer beladenen Esel in den Hof, nahm ihm einige voll gefüllte Säcke und drei oder vier piepsende, an den Füßen zusammengebundene Hähnchen ab. Nachdem er die Säcke an die Wand gestellt hatte, wandte er sich dem Chan zu und begrüßte ihn, indem er sich zweimal tief verbeugte. Der Chan beantwortete seinen Gruß und sagte: „Warum machst du dir so viel Mühe, Mensch Nowrusali?" Nowrusali machte seine Säcke auf. „Was fragst du da, o Chan! Was für eine Mühe ist das schon? Bis zu meinem Tode bin ich dein Diener." Nachdem er das gesagt hatte, begann er seine Kleidung abzustauben. In diesem Moment fiel dem Chan ein, er könnte Nowrusali den Brief zur Post bringen lassen. Es war schon spät, und das Amt würde bald schließen. Der Chan wandte sich dem Bauern zu:

„Nowrusali, weißt du, wo sich das Postamt befindet?", fragte der Chan.

Nowrusali antwortete: „0, Chan, ich bin ein ungebildeter Bauer, woher soll ich wissen, was ein Postamt ist?"

 „Gut, aber vielleicht weißt du, wo sich die Amtsstelle des Natschärniks2 befindet?"

„Jawohl, Chan, mein gnädiger Herr, das weiß ich. Erst in der vorigen Woche habe ich mich beim Natschärnik über den Dorfschulzen beschwert. Ich schwöre bei deinem Kopf, Chan, dieser Dorfschulze macht uns das Leben schwer. Wenn ich ehrlich sein soll: Er ist ein Fremdling und darum mag er uns nicht. Letzte Woche kamen mir zwei Kälber abhanden, ich ging..." „Warte, davon kannst du mir später erzählen. Jetzt hör zu, was ich dir sage: Genau vor dem Amt des Natschärniks steht ein großes Haus, vor dem Eingang dieses Hauses hängt an der Wand ein Kasten. Das ist der Briefkasten, er hat einen kleinen länglichen Deckel. Also, bring diesen Brief dorthin, klappe den Deckel hoch und wirf den Brief in den Briefkasten, schließe den

Deckel wieder und komm sofort zurück." Nowrusali ergriff mit beiden Händen scheu den Brief, betrachtete ihn und richtete seine Augen auf den Chan. Dann trat er an

die Wand zurück, beugte sich nieder und wollte den Brief auf die Erde legen.

„Leg den Brief nicht hin!", schrie der Chan.  „Du wirst ihn beschmutzen! Lauf schnell zur Post, wirf den Brief in den Kasten und kehre zurück!" „Mein lieber Chan, erlaube mir nur, dem Esel ein Säckchen Heu zu geben, das arme Tier ist hungrig und müde, es hat doch einen langen Weg zurückgelegt." „Nein, nein! Das schadet nichts. Der Brief muss rechtzeitig ankommen! Den Esel kannst du später füttern." „Dann erlaube mir wenigstens, den Esel anzubinden, sonst wirder die Bäume kahlfressen."

„Nein, nein, später. Lauf schnell, stecke den Brief in den Kasten

und komm zurück!"

Nowrusali steckte vorsichtig den Brief ins Hemd und sagte:

„Chan, ich flehe dich an, gestatte mir, die Hähnchen loszubinden und zu füttern. Das Futter habe ich mitgenommen." Nowrusali griff in die Tasche, um Futter herauszuholen, doch der Chan schrie laut: „Nein, lass das! Lauf sofort zur Post!" Nowrusali nahm seinen Stock und lief hüpfend wie ein Kind zum Tor. Plötzlich blieb er stehen, weil ihm etwas eingefallen war. Er wandte sich um. „0, mein lieber Chan, um Gottes willen! Ich flehe dich an: Da im Bündel sind Eier. Achte bitte auf den Esel, er könnte sich auf der Erde wälzen und alle Eier zerdrücken." Dem Chan platzte der Geduldsfaden. Er schrie: „Hör auf zu schwatzen! Lauf schnell, sonst wirst du dich verspäten! Nowrusali wollte sich entfernen, da rief ihm der Chan nach: „Den Brief darfst du niemandem zeigen oder geben! Wirf ihn schnell in den Kasten und komme gleich zurück!" „Ich bin doch kein Kind, dass ich den Brief einem Fremden zu gebe!", erwiderte dieser. „Für wen hältst du mich denn, Chan?

So dumm bin ich nicht. Selbst der Natschärnik wird mir den Brief nicht wegnehmen können!" Nach diesen Worten bog er um die Ecke und verschwand. Der Chan kehrte ins Zimmer zurück, wandte sich an seine Gattin und sagte liebevoll: „Mein Augenlicht, bereite dich zur Abreise vor. Ich habe nach Irawän geschrieben, dass man unsere. Wohnung in Ordnung bringen soll. Jetzt können wir fahren. Maschalläh3, mit deiner Gesundheit steht es besser. Auch der

Arzt sagt, der Klimawechsel wird dir helfen." Während der Chan mit seiner Gattin über die bevorstehende Abreise sprach, kam der Diener und fragte: „Herr Chan, wem gehört der Esel im Hof und wer hat diese Sachen gebracht?" „Schaff die Sachen weg, die hat der Itgapäner Nowrusali als Geschenk gebracht", antwortete der Chan. Der Diener trug die Eier und die Hähnchen in die Küche und führte den Esel in den Stall. Dann band er einen Sack auf, nahm eine Handvoll Mehl und brachte sie dem Chan.

„Herr Chan, das ist gutes, weißes Mehl." Der Chan sah sich das Mehl an. Dann befahl er, das Mittagessen aufzutragen. Erst danach erinnerte sich der Chan an Nowrusali. Er ließ den Diener kommen und fragte ihm, ob der Bauer schon zurück sei. Es stellte sich heraus, dass Nowrusali noch nicht da war. Der Chan wunderte sich darüber und nahm an, dass er wahrscheinlich von der Post auf den Basar gegangen sei, um etwas zum Essen einzukaufen oder andere Sachen zu besorgen.

Es verging eine Stunde, doch Nowrusali war noch immer nicht zurück.

Der Chan rief den Diener und schickte ihn zum Postamt, um zu erfahren, was mit dem Bauern geschehen war. Nach kaum einer halben Stunde kam der Diener zurück und meldete, dass Nowrusali nirgends zu finden sei. Der Chan ging auf die Terrasse und steckte sich eine Zigarette an. „Wahrscheinlich ist ihm ein Unglück zugestoßen, sonst hätte er sich nicht so lange aufgehalten", dachte der Chan und ging auf und ab. In diesem Augenblick betrat ein Polizist den Hof.

Der Pristaw4 bittet Sie, Herr Chan, bei ihm zu erscheinen, um für Ihren Bauern zu bürgen, widrigenfalls wird der Mann ins Gefängnis gesetzt", sagte der Polizist.

Diese Meldung erschütterte den Chan so stark, dass er den Polizisten eine Minute lang sprachlos ansah:

„Dieser Bauer ist der harmloseste Mensch", sagte er endlich. „Was soll er getan haben? Warum ist er verhaftet worden?" „Ich weiß nichts", erwiderte der Polizist. „Kommen Sie bitte selbst ins Polizeirevier. Dort werden Sie Bescheid bekommen". Um seine Gattin nicht zu beunruhigen, erzählte der Chan ihr nichts von diesem Vorfall, kleidete sich schnell an und ging zum Polizeirevier. Als er dort angekommen war, schaute er zuerst durch das Fenster des Haftlokals und sah dort den armen Nowrusali neben den anderen Verhafteten in einer Ecke sitzen. Der Arme weinte wie ein Kind und wischte die Tränen mit dem Rockschoß seiner Tschucha5 ab.

Nachdem der Chan vom Pristaw den wahren Sachverhalt erfahren hatte, bürgte er für Nowrusali und nahm ihn mit nach Hause. Als Nowrusali in den Hof trat, begann er wieder zu weinen. Er legte das Säckchen mit Heufutter vor seinen Esel und kauerte sich schluchzend an die Mauer. Der Chan ging ins Zimmer, zündete sich eine Zigarette an, ging wieder auf die Terrasse, ließ den Bauern rufen und sagte: „Nun, Nowrusali, erzähle mir jetzt, was mit dir geschehen ist! Das muss eine äußerst interessante Geschichte sein. Man sollte sie in einem Buch aufschreiben. Erzähle alles ausführlich von A bis Z. Lasse nichts aus! Beginne an jener Stelle, wo du den Brief von mir bekommen hast, und erzähle, wie man dich verhaftet hat!"Nowrusali stand auf, trat zum Chan, wischte sich mit dem Schoß seiner Tschucha die Tränen ab und begann: „Ich flehe dich an, o gnädiger Chan, verzeihe mir um deiner Kinder willen! Ich habe keine Schuld. Ich bin ein armer Bauer. Woher sollte ich wissen, was ein Brief oder ein Briefkasten oder eine Poscht5 sind? Habe Mitleid mit mir! Richte mich nicht zugrunde! Mein ganzes Leben lang werde ich für dich alles tun, alles, was du wünschst! lch verstehe, dass ich eine Sünde begangen habe, aber was soll ich machen? Allah hat es so gewollt. Ich werde dir bis über das Grab hinaus die Treue halten!" Mit diesen Worten näherte sich Nowrusah' dem Chan und beugte sich nieder, um seine Füße zu küssen. „Nowrusali! Sei  nicht traurig. Was hast du  mir Schlechtes

getan, dass ich auf dich böse sein soll! Ich mache dir keinen Vorwurf." „Chan, ich bin Staub in deinen Händen. Ich bin ein Verbrecher, denn schlimmer als das, was vorgekommen ist, kann nichts sein. Ich ließ den Brief in den Kasten fallen und dieser Kafir7, Sohn eines Kafirs, nahm deinen Brief, steckte ihn in seinen

Beutel und lief davon." „Wer hat den Brief in den Beutel gesteckt und ist davongelaufen?"

„Jener Russe, der Sohn eines Kafirs."

„Und wohin ging er damit?"

„Er ging in das große Haus, an dem der Briefkasten hängt."

Der Chan wurde nachdenklich und fragte:

„Hast du denn den Brief nicht in den Briefkasten geworfen?"

„Wieso denn nicht! Kaum hatte ich den Brief in den Kasten

 geworfen, da erschien dieser Kafir, machte den Kasten auf eine

unverständliche Weise auf, nahm den Brief heraus und ging

fort." „Gab es im Kasten außer diesem Brief keine anderen mehr?"

„Wieso denn keine? Es waren noch viele da, und alle hat er

mitgenommen." Der Chan brach in Gelächter aus. „Nein, Nowrusali! Du musst mir alles vom Anfang bis zum Ende der Reihe nach erzählen und zwar, wie du den Brief weggebracht und in den Briefkasten geworfen hast, und wie du mit

dem Russen aneinandergeraten bist!" „0, gnädiger Chan!", begann Nowrusali. „Ich nahm den Brief und ging direkt zur Kanzlei des Natschärniks. Ich fand sogleich das Haus, von dem du sprachst. Ich trat an den Kasten, klappte den Deckel auf und wollte den Brief schon hineinwerfen, doch wagte ich es nicht. Mal sah ich den Brief an, mal den Kasten; offen gesagt, fürchtete ich mich vor deinem Zorn. Nun wusste ich nicht, was ich zu tun hätte: sollte ich den Brief dort lasse und zurückkehren oder sollte ich ihn bewachen? Ich überlegte mir: 'Wenn ich den Brief hineinwerfe, wie lange muss ich dann noch hier stehen?' Du hast doch selbst gesehen, gnädiger Herr, dass ich den hungrigen Esel auf dem Hof stehen ließ, auch die gebundenen Hähnchen und ein paar Sack Mehl, das ich für dich gebracht hatte. Gnädiger Chan, Staub bin ich in deinen

Händen, lass mich mit deinem Diener die Säcke ins Haus schaffen! Es kann regnen und dann wird das Mehl feucht!" „Nein, Nowrusali, das ist nicht deine Sache. Das wird auch ohne dich erledigt. Erzähle, was weiter geschah!" „Ich warf den Brief nicht hinein, machte den Deckel zu und stellte mich neben den Kasten. Zuerst wollte ich zurückkehren, um dich zu fragen, was ich weiter tun sollte. Dann aber, offen gestanden, - fürchtete ich mich vor deinem Zorn. Ich dachte mir: 'Jetzt wird der gnädige Chan denken: Was für ein dummer Esel ist dieser Nowrusali! Was für ein Lümmel!' Kurzum, ich kauerte mich neben der Wand nieder, um mich ein wenig zu erholen. Plötzlich sah ich einen armenischen Jungen, der etwa so groß war (zeigt mit der Hand) und zwölf, dreizehn Jahre alt sein konnte. Er ging direkt auf den Kasten zu, hob den Deckel, warf einen ähnlichen Brief hinein und machte sich auf den Rückweg. Wie oft ich auch diesen Gewissenlosen rief, um ihn zu fragen, warum er den Brief unbewacht im Kasten liegen ließe, er gab mir keine Antwort. Vielleicht hat er mich nicht verstanden. Er sah sich nicht einmal um. Kaum war der armenische Junge weg, kam eine Russin. Auch sie warf einen Brief in den Kasten und ging rasch davon. Das machte mir Mut. Ich dachte mir: 'Anscheinend müssen alle Briefe in diesen Kasten geworfen werden und dort liegen bleiben.' Ich sandte dem großen Allah ein Gebet, sagte Bismalläh8 und trat mutig heran, hob den Deckel, ließ den Brief in den Kasten fallen und wollte schon den Rückweg antreten, als ich einen Russen an den Kasten herantreten sah. Zuerst glaubte ich, auch er wolle einen Brief hineinwerfen. Aber nein! Der Spitzbube hatte ganz andere Absichten. Mit einem Schlüssel in der rechten Hand machte er den Kasten auf, sammelte ganz unverschämt die Briefe auf und versuchte, sich davonzumachen. Da roch ich den Braten, der Schurke wollte die Briefe stehlen... Verzeih mir, Chan, dass ich dir durch mein Geschwätz lästig falle... Befiehl dem Diener, mich nach Hause gehen zu lassen. Es ist schon spät, ich muss los, sonst komme nicht rechtzeitig heim." „Was redest du da? Bevor du mir nicht die ganze Geschichte erzählt hast, lasse ich dich nicht weg! Berichte, was weiter geschah!"

„Chan, mögen meine Kinder deine Sklaven sein! Möge ich keinen Tag ohne dich am Leben bleiben! Ich sah, wie dieser Schuft ganz unverschämt die Briefe aus dem Kasten nahm, dann den Kasten zumachte und sich davonmachen wollte! Da packte ich den Russen am Arm und sagte: 'Na, Freund! Wohin schleppst du dicse Briefe? Man steckt sie hier in den Kasten nicht dir zuliebe! Lege sie sofort zurück, sonst...!' Ich fügte noch hinzu: 'Solange Nowrusali lebt, wird er dir nicht erlauben, den Brief seines Herrn irgendwohin zu schleppen. Du tust nichts Gutes, man darf nicht nach fremdem Gut langen. Gilt so etwas in Eurem Scharia9 nicht als eine Sünde?' - Chan, ich bitte dich, um deiner Kinder willen! Lass mich gehen, es ist schon spät, es dunkelt!"

„Beeile dich, du hast noch Zeit. Erzähle weiter!" „Na, wo bin ich denn stehen geblieben? ... Ja, ... Halt! Der Esel wird die Weinstöcke kaputt machen! (Nowrusali will zum Esel hinaus, aber der Chan lässt ihn nicht.) Ja, also, wo war ich stehengeblieben? Ach, ja! Ich bat ihn, die Briefe liegen zu lassen, wenigstens den Brief meines Chans. 'Mein Chan wird mich töten', sagte ich, 'gib seinen Brief her'. Doch dieser Russe ging nicht darauf ein. Alle Versuche, die Briefe wiederzubekommen, waren umsonst. Ich konnte ihn nicht überreden. Und als ich merkte, dass der Gauner das Weite suchen wollte, geriet ich in Wut, packte den Kafir mit beiden Händen bei den Schultern und schleuderte ihn so zu Boden, dass ihm das Blut aus dem Mund rann. Da stürzten sie aus der Kanzlei des Stadthauptmanns auf mich los, verprügelten mich und führten mich ins Gefängnis. Möge ich vor deinen Füßen sterben! Ohne deinen Beistand, Chan, wäre ich schon längst nach Sibirien verbannt worden. Die anderen Eingesperrten sagten mir, dass jener Russe ein Beamter sei. Nun, was hätte ich tun sollen? Ich bitte dich, mein Chan, bedenke selbst, wer schuld daran ist?" Der Chan lachte lange schallend. Es dunkelte, Nowrusali, selbst hungrig, warf die leeren Säcke auf den hungrigen Esel, trieb ihn mit seinem Stock an und schleppte sich hinter ihm her nach Hause. Drei Tage später erhielt der Chan aus Irawän ein Telegramm folgenden Wortlauts: „Brief erhalten. Wohnung bezugsfertig." Der Chan iieß die Sachen packen und machte sich mit seiner

Gemahlin auf den Weg. Nach anderthalb Monaten wurde Nowrusali vor Gericht geladen  und  wegen  Beleidigung eines  Beamten  bei Ausübung seiner Pflicht zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt. Nowrusali bekannte sich für nicht schuldig.

Es vergingen weitere drei Monate, bis diese Nachricht Weli Chan in Irawän erreichte. AIs er von dem Geschehenen erfuhr, versank er in Nachdenken.

Der 12. November 1903

1            Itgapän - eigentlich „der Hundebeißer" - Name des Dorfes.

2            Natschärnik - entstellte Form des russischen Wortes Nat-
schalnik
(Vorgesetzter, Vorsteher).

3            Maschalläh - Gott sei dank!

4            Pristaw - Polizeireviervorsteher zur Zarenzeit.

5            Tschucha - langes Obergewand für Männer.

6            Poscht - entstellte Form von Post.
1   Kafir - Ungläubiger (arabisch)

8            Bismalldh - im Namen Allahs (arabisch)

9            Scharia - im Koran festgelegte Gesetze des Islam, die das
gesamte Leben der Gläubigen regeln